KelmL am 23.07.2020

WO LITERATUR EINEN HINTRAGEN KANN
Wolfgang Firmenich, Köln, Juli 2020

Die kleine Gedicht- und Prosaanthologie »(un)zeitgemäß – anderswo ist schon da« erreichte mich als Geschenk meiner Freundin Marion, eine der Autorinnen. Die Sammlung gefällt mir sehr gut, sie lädt zum Schmökern ein und man kann so schön auf Entdeckungsreise gehen. Allerdings sollte man sich Zeit nehmen, bei den Texten länger verweilen, sie stellen oft eine echte Herausforderung dar, inhaltlich wie auch von der Form her. Nicht alles erschloss sich mir, wie das mit Literatur nun mal so ist. Aber: die Lektüre lohnt sich.

Ich hatte immer wieder ein Aha-Erlebnis, Denkanstöße, z.B. bei Texten von Wolfgang Endler, deren Grundton mal ironisch, mal böse, mal beides rüberkommt; herrlich, wie er seine Rubriken formuliert. „Zeitreise in Heimatkunde“ weckte in mir schöne Erinnerungen an Friedrichshagen – Bahnhof, Bölschestraße, Müggelpark, selbst mit dem erwähnten Maulbeerbaum und seiner Bedeutung für die Friedrichshagener Geschichte wusste ich etwas anzufangen. Ein gelungener Text.

Auch die (Traum-)Geschichten, mit welchen Monika Jarju den Band bereichert, lassen sich gut genießen. Vielleicht, weil sie eine große Bandbreite menschlicher Empfindungen und Bedürfnisse abbilden, den Grusel ebenso wie die Lust auf Albernes, Unsinn, den Spaß am Schabernack. „Saftladen“ macht einfach Spaß, ich habe mich wiedererkannt, d.h. ich kam vor – das ist viel, wenn Literatur das beim Leser schafft.

Wie sagte einst der große Poet und Musikus Bob Dylan: „Es ist egal, wo meine Stücke herkommen. Wichtig ist, wo sie dich hintragen.“ Ja, und dass sie einen überhaupt irgendwo hintragen. Dies gilt besonders für Marion Kannens „Aufs Meer zu“, ein Text, der in mir Wehmut und Sehnsucht auslöste – vielleicht ganz anders gedacht als poetische Beschreibung von Sterben, Tod und Übergang. So quer man das Buch halten muss, um ihn zu lesen, so quer sitzt er einem danach im Kopf. Anspruchsvoll ihre meist sehr kurzen Lyriktexte. Kein Wort verschwendet, die Sprache extrem verdichtet, wie es sich für Gedichte gehört, man versteht, wie viel Spaß die Autorin am Spiel mit der Form hat. Bei „$doch noch Umsatz kurz vor Ladenschluss$“ verwandelt sie den ersten und letzten Buchstaben in Dollarzeichen, in „Grinsekatze !“ fummelt sie in die Zeile darunter mittig ein „Ü“ – fast ein Bild, sehr schön. „Was Bist“ handelt von Abgrenzung, Distanz zu einem Menschen, der zu viel Nähe will. Originell die Zeilen: „Was sollst du – von mir“. „Umgekippt“ – ein Prosatext über den Unfall der alten Mutter und was sich anschließend bei der medizinischen Versorgung abspielt, vor allem im Erleben, in der Gefühlswelt der Angehörigen. Dieser Beitrag – mitten aus dem Leben – verarbeitet wie schwierig selbiges sein kann. Das macht ihn in meinen Augen so wertvoll.

Auch die anderen AutorInnen, Lena Kelm, Johanna Krüger-Bandt, Regine Wendt und Harald Werdowski haben mir gut gefallen. Kelms „Sprechen Sie doch Menschen an!“ könnte auch „Dumm gelaufen“ heißen und bringt einen zum Lachen. Man möchte Mitleid haben mit dem Erzähler oder der Erzählerin.
Bei Krüger-Bandt gefällt mir, wie sie Jahreszeiten thematisiert – Sommerwind, Sommerhimmel, Februar – nebelschwer und winterleer, oder braunes Herbstgestrüpp, welches Rauhreifblüten weißeln. Wer Lust auf neue Wörter hat und auf Stabreim, wird diese Gedichte gerne lesen.

Wendt hat ihre Texte, Lyrik und Prosa mit Bildern – ich glaube, Aquarellzeichnungen – untermalt. Eine eindrucksvolle Mischung aus Traumwelten, Sehnsüchten und Motiven, die häufig der Natur entnommen sind.
Schließlich Werdowski: bei „tierische mitte“ musste ich herzhaft lachen, gerade als Hundebesitzer, ein sehr gelungenes Bonmot. „Vaterland“ ist genau richtig für jemanden, der NICHT aus der DDR stammt, den Zeitgeschichte interessiert, speziell das Aufwachsen in der DDR, den Wechsel nach „drüben“. Der Autor blieb hier wie dort ohne Vaterland und bedauert dies wohl. Ich frage mich jetzt, was Vaterland mir bedeutet, ob ich das habe oder brauche und was das eigentlich ist. – Insgesamt eine feine Sammlung.


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